Schwester Kilianis
Mit diesem Kapitel möchte ich Schwester Kilianis ein kleines „Denkmal“ setzen, denn sie hat es verdient.
Hedwig West, die spätere Schwester Kilianis, wurde 1904 in Dortmund geboren. 1928 trat sie in das Kloster der Barmherzigen Schwestern in Paderborn ein.
Als ich 1940 in das St. Johannes-Stift Marsberg kam, war Schwester Kilianis schon da.
Sie war vor allem Schulschwester. Die Kleinen mussten beschäftigt werden. Wenn es möglich war, brachte sie den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Die meisten waren aber zu schwach, und sie haben nur wenig behalten. Also suchte Kilianis nach anderen Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie fand „Fuhrmann und Topf“, eine Firma, die Rechenmaschinen und Tafeln herstellte. So lernten die Kinder unter Kilianis liebevoller Anleitung, wie man Perlen in der richtigen Reihen- und Farbfolge auffädelte. Die Kinder freuten sich wie die Schneekönige, wenn „Fuhrmann und Topf“ kam; sie liebten diese Arbeit und sie liebten auch die Süßigkeiten, die er immer mitbrachte. Das Schwärzen der Tafeln allerdings übernahmen Kilianis und ich. Nach den ersten Versuchen waren die Kinder mehr geschwärzt als die Tafeln, sodass die Großen diese Arbeit übernahmen.
Zwischendurch wurde gebastelt und gewerkelt, für den Weihnachtsbasar, der jedes Jahr stattfand. Kilianis war unermüdlich und dabei immer liebevoll und freundlich. Sie fand für jeden von uns die richtige Arbeit. Vielleicht lag es daran, dass es bei ihr nie wirklich Ärger gab. Sie musste nur mal etwas schimpfen, und schon tat man was sie wollte; wir liebten sie einfach alle.
Schon morgens stürmten die Kinder in den Schulkeller. Sie konnten es gar nicht erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Aber wie schon gesagt, – es lag nicht nur an der Arbeit, vor allem lag es an Kilianis und der guten Stimmung, die sie verbreitete.
Sie entdeckte auch die Webstühle, die unten im Keller im Schulgebäude standen. Die Einrichtung hatte keine Aufnehmer mehr (es herrschten ja knappe Zeiten) und Kilianis sorgte dafür, dass die Webstühle wieder in Schuss kamen. Und wir webten Aufnehmer, dass es krachte. Zwischendurch rief Kilianis: „Günther, du musst zur Post!“
Und natürlich war Kilianis auch für die Tiere zuständig. Die Kleinen wussten darüber Bescheid, bevor sie da waren. „Wir haben doch Ohren“, meinte ein Kleiner, und sie konnten es kaum erwarten, bis es soweit war.
Dann kamen sie: Dammwild, Muffelwild, Rothirsche, Fasane und zuletzt auch noch ein Affe. Und Kilianis wurde mit allen fertig. Sie fütterte sie, natürlich mit unserer Unterstützung, pflegte sie, wenn sie krank waren und zog sogar ein Reh mit der Flasche auf. Eines Tages fand ich am Waldrand eine Drossel, die nicht mehr fliegen konnte. „Nimm sie mit“, sagte Kilianis. Wir besorgten einen Käfig und Kilianis verarztete den Flügel. Einige Wochen wurde sie gefüttert und liebevoll gepflegt. Wir besorgten sogar eine Stange für den Käfig um auszuprobieren, ob die Drossel hoch ging und das Gleichgewicht halten konnte. Es klappte ganz gut und schließlich öffneten wir den Käfig und der Vogel flog seine Runde. Die Kinder waren begeistert, ich auch, aber der Vogel blieb uns treu. Einmal brachte ich ihn raus, er sollte doch wieder in Freiheit leben. Aber er wollte nicht. Er flog nur eine kurze Runde und klopfte mit seinem Schnabel ans Fenster; er wollte wieder rein.
Kaum war er drin, ging er an seinen Futternapf. So hatten wir noch lange Zeit unseren Spaß mit der Drossel.
Ich weiß heute noch nicht, wie Kilianis das geschafft hatte, aber sie „flickte alles zusammen“, was kaputt war. „Man muss einfach fertig werden mit den Leuten, dann geht es.“ Das war Kilianis’ Motto. Sie war unglaublich tolerant, aber sie selbst musste oft unter den strengen Ordensregeln leiden.
Ich erinnere mich an den Tod von Herrn Wagner. Er war ein lieber Mitarbeiter, der mit uns die Webstühle aufgebaut hatte. Zu seiner Beerdigung gingen fast alle mit; Kilianis durfte nicht mit, überhaupt durfte keine Nonne mit, denn Wagner war evangelisch. Kilianis hatte geweint und ich hatte die „Tollwut“, ich hätte um mich schlagen können. Sogar in dieser Situation hatte Kilianis mich noch getröstet. „Bleib‚ ruhig“, sagte sie, „er ist jetzt beim lieben Gott.“
Ich begreife es bis heute nicht – und krieg immer noch die Wut. Was für Kilianis zählte, waren die Menschen. Für die anderen Nonnen zählten die Regeln.
Wie deutlich habe ich da gemerkt, wie scheinheilig Menschen sein können. Meine Beziehung zur Kirche hat da einen Bruch bekommen, der bis heute nicht verheilt ist.
Kilianis war unglaublich wichtig für mich. Sie passte sozusagen auf mich auf; sie ließ nichts auf mich kommen. „Lassen Sie ihn in Ruhe“; sagte sie zu Leuten, die ihre Probleme mit mir hatten, „wenn Sie ihm nichts tun, tut er Ihnen auch nichts, – auf jeden Pott gehört ein Deckel, basta“. Und ich ließ nichts auf Kilianis kommen, ich hätte alles für sie getan.
1980 kam der Abschied. Alle Ordensschwestern mussten uns verlassen. Als Kilianis es mir erzählte konnte ich es erst gar nicht fassen. Was sollte aus mir werden? „Du musst zusehen, dass Du Arbeit findest“, gab sie mir mit auf den Weg.
Sie selbst suchte sich ihren Altersruhesitz auf Gut Rosenkranz in Paderborn; dort waren auch Tiere, so, wie sie es sich gewünscht hatte.
Ihren Umzug habe ich begleitet. Sie hatte ja nicht viel, und so ging der Abschied recht schnell. Später habe ich sie mit Herrn Fuchs noch einmal besucht; wie hatte sie sich gefreut! Sie selbst konnte ja nicht mehr nach Marsberg kommen.
Schwester Kilianis ist 1985 gestorben. Zusammen mit Herrn Fuchs konnte ich zur Beerdigung fahren und mich von einer Frau verabschieden, die ein Meilenstein in meinem Leben war.